Hurrikan Melissa: «Es sieht aus wie nach einem Tsunami»
Der Hurrikan Melissa hat in der Karibik eine Schneise der Verwüstung hinterlassen – stark betroffen ist der Osten Kubas. Yvonne Affolter, Nothilfexpertin vom Schweizerischen Roten Kreuz (SRK), ist zurzeit mit einem Schweizer Einsatzteam vor Ort, um die Trinkwasserversorgung für rund 10 000 Menschen wiederherzustellen. Im Interview berichtet sie von ihren Eindrücken.
News vom 17. November 2025
Interview mit Yvonne Affolter
Yvonne Affolter
Yvonne Affolter arbeitet als Koordinatorin der Nothilfe beim Schweizerischen Roten Kreuz (SRK). In Kuba unterstützt sie gemeinsam mit einem Schweizer Einsatzteam und dem Kubanischen Roten Kreuz die Wiederherstellung der Versorgung mit sauberem Wasser.
Yvonne, was hast du bei deiner Ankunft in Kuba erlebt?
In Havanna, der Hauptstadt von Kuba, war zunächst wenig zu spüren – doch je weiter wir in den Osten fuhren, desto deutlicher wurde das Ausmass der Katastrophe: Umgeknickte Palmen, überflutete Felder, zerstörte Brücken, Strassen und Häuser. In den Küstenregionen erinnert die Zerstörung an einen Tsunami.
Das volle Ausmass der Schäden ist noch nicht absehbar.
Yvonne Affolter
Wie geht es den Menschen vor Ort?
Viele haben ihr Zuhause und fast ihren gesamten Besitz verloren. Die Evakuierungen haben zwar gut funktioniert, aber viele konnten nur das Nötigste mitnehmen. Man sieht Häuser, wo der Hausrat im Schlamm steckt, Dächer fehlen, Wände sind eingestürzt.
Mein erster Eindruck war, dass die Menschen sehr resilient wirken. Ein Mann sagte mir, sie seien Kämpfer. Sie hätten überlebt – jetzt würden sie weitermachen.
Beim genauen Hinhören merkte ich jedoch, dass viele Leute traumatisiert sind. In einem Fischerdorf kamen wir mit einer Gruppe von Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern ins Gespräch. Als wir über den Hurrikan sprachen, fingen fast alle an zu weinen. Viele haben Alpträume. Die meisten Menschen haben schon Hurrikans erlebt und mussten ihre Häuser bereits einmal reparieren. Dieser Hurrikan sei jedoch besonders zerstörerisch gewesen, sagten sie mir.
Ihr werdet die Trinkwasserversorgung für 10 000 Menschen wiederherstellen. Wie funktioniert das?
Die Überschwemmungen haben das Trinkwasser stark verunreinigt. Das Schweizer Einsatzteam hat ein mobiles Wasseraufbereitungssystem eingeflogen, das den Zugang zu sauberem Wasser sichert. Diese Unterstützung hat Nothilfecharakter und ist als Übergangslösung gedacht, bis in ein paar Monaten die Normalversorgung mit Trinkwasser wieder funktioniert.
Gemeinsam mit einem Nothilfeteam aus der Schweiz, dem Kubanischen Roten Kreuz und den kubanischen Wasserbehörden analysieren wir zurzeit die Lage in den Dörfern und finden heraus, wo diese Systeme am effizientesten eingesetzt werden können.
Die Dankbarkeit der Menschen für die Unterstützung aus der Schweiz ist gross – sauberes Wasser ist überlebenswichtig.
Yvonne Affolter
Was zeigt dieser Einsatz in Bezug auf die Katastrophenvorsorge?
Die gute Vorbereitung auf den Hurrikan und die rasche Evakuierung haben Leben gerettet – bislang wurden offiziell keine Todesfälle registriert. Das Kubanische Rote Kreuz konnte innerhalb kürzester Zeit rund Tausende Freiwillige mobilisieren, die in den Dörfern bei der Evakuierung halfen und diejenigen Menschen aufspürten, die besonders verletzlich waren und nicht selbständig die Gefahrenzone verlassen konnten. Auch die koordinierte Zusammenarbeit mit den Behörden und die strategische Lagerung von Hilfsgütern haben dazu beigetragen, dass die Hilfe vor Ort schnell angelaufen ist.
Was motiviert dich persönlich zu solchen Einsätzen?
Mich bewegt der humanitäre Gedanke. Ich lebe in einem Land ohne Krieg und mit wenigen Katastrophen – das ist ein Privileg. Gleichzeitig habe ich Kompetenzen, die ich teilen kann. Die Rotkreuz-Bewegung ist weltweit vernetzt und kann schnell Hilfe leisten. Es ist beeindruckend, wie rasch alles in Bewegung kommt. Und es ist sehr erfüllend, wie viel man bei solch einem Einsatz über ein Land, seine Kultur und die Menschen lernt. Man wächst als Team schnell zusammen, baut Beziehungen auf – das gibt einem sehr viel zurück.
Hurrikan Melissa in Kuba
Melissa war einer der stärksten Hurrikans, die Kuba je getroffen haben. Viele Dörfer sind noch immer von der Aussenwelt abgeschnitten – Strom und Telefon funktionieren vielerorts nicht.
Fünf Meter hohe Wellen haben ganze Häuser weggespült. Im Landesinnern gibt es vor allem Schäden wegen Überschwemmungen, Erdrutschen und auch wegen des Sturms, der Dächer abgedeckt und Bäume entwurzelt hat.