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Allein auf der Flucht: Protokoll einer Reise

Reportage

Der 17-jährige Hassan* ist einer von Tausenden minderjährigen Afghanen, die ihr Land verlassen müssen und in der Schweiz Schutz suchen. Das ist seine Geschichte.

Erzählt Hassan von seiner Flucht, muss die Übersetzerin manchmal mit den Tränen kämpfen, bevor sie seine Worte von Farsi ins Deutsche wiedergibt.

Seine Flucht beginnt im Sommer 2021, als er ungefähr 15 Jahre alt ist. An jenem Sonntag, dem 15. August, an dem die Taliban die Macht im Land übernehmen. Hassans Familie versucht nach Kabul zu flüchten. «Wir fuhren im Auto, hatten alle Papiere bei uns und dachten, wir könnten nach Amerika fliegen». Sein Vater hat schliesslich für die Regierung gearbeitet.

Bewaffnete Männer halten den Wagen an und nehmen den Vater mit. «Wir versteckten uns fünf Tage, hatten grosse Angst. Und dann erfuhren wir, dass mein Papa tot ist.» Der Rest der Familie wagt einen neuen Fluchtversuch. Doch am Flughafen in Kabul ist das Gedränge unfassbar. Hassan und seine Familie verlieren sich aus den Augen.

Am Flughafen von Kabul ging ich voraus, die anderen waren dicht hinter mir – bis ich plötzlich merkte, dass sie nicht mehr da sind.

Hassan

Teheran – Istanbul – Sofia

Ende August 2021 flüchtet Hassan mit Freunden in einem Jeep Richtung Südwesten. Von Teheran gelangen sie mit einem Schlepper nach Istanbul. Hassan bleibt ein halbes Jahr. Er erzählt von den Schleppern, von Gewalt, die er gesehen, aber nicht direkt erlebt hat. «Wenn sich jemand gewehrt hat, wurde er angeschrien und geschlagen. Ich habe deshalb immer das getan, was Schlepper von mir verlangt haben.»

Hassan sucht über Facebook nach seiner Familie. Ein Freund seines verstorbenen Vaters kontaktiert ihn auf diese Weise. «Er meinte, ich solle in die Schweiz gehen, da könne ich in die Schule.» Hassan reist ohne seine Freunde weiter, mit einem Schlepper aus Istanbul. Ziel: Via Bulgarien nach Westeuropa. Er kann sich gut an den Stacheldraht erinnern, an die Zange, die der Schlepper bei sich hatte. Und an die zwei Tage, die sie entweder in der Nacht ausharren oder im Wald marschieren mussten. Auf der Bulgarien-Route machen Kinder, viele unbegleitet, ein Drittel aller Flüchtenden aus. Sie erleben auf der Flucht verschiedene Formen von Gewalt, Selbstverletzungen und Suizidversuche.

Immer mehr unbegleitete minderjährige Asylsuchende

0unbegleitete minderjährige Asylsuchende

Heute ist jeder zehnte Asylsuchende in der Schweiz unter 18 Jahre alt und unbegleitet.

0aus Afghanistan

Gut 80 Prozent (81,7) der unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA) kommen aus Afghanistan.

0wartende UMA

Ende 2023 warten 140 UMA auf ein Erstgespräch mit dem Suchdienst SRK. Die älteste Anfragen sind von Ende 2022.

Belgrad – Ungarn – Wien

Nach wenigen Stunden in Sofia steckt die Polizei den Minderjährigen ins Gefängnis. «Ich durfte nichts tun, keine frische Luft schnappen». Nach einem Monat lassen ihn die Behörden ziehen. Es folgt ein neuer Schlepper, ein neues Auto bis Belgrad. Dort schläft er in einem Flüchtlingscamp. Dann reist er mit Schleppern weiter über Ungarn nach Wien, wo er wieder in einem Camp unterkommt.

Nach zehn Tagen in Wien geht er zum Bahnhof und steigt in den Zug nach Zürich ein – ohne Ticket. Die Kontrolleure sind gnädig.

Buchs – Boudry – Kanton Zürich

Erst in Buchs holen ihn Schweizer Polizisten aus dem Zug. Über seine ersten Wochen in der Schweiz Ende Mai 2022, seinen Aufenthalt im Bundesasylzentrum in Boudry, erzählt Hassan heute kaum etwas.

Hassan vermisst seine Mutter. Als er im September 2022 in eine Unterkunft im Kanton Zürich kommt, hatte er seit über einem Jahr keinen Kontakt mehr zu ihr. Seine Beiständin meldet sich beim Suchdienst des Roten Kreuzes. Bis zu seinem Erstgespräch muss Hassan aber warten.

Unsere Ressourcen sind beschränkt. Leider wird unsere Warteliste mit jedem Tag länger. Aktuell warten 140 Minderjährige auf ein erstes Gespräch.

Nicole Windlin, Leiterin Suchdienst SRK

Wenn Kinder nach ihren Eltern suchen

Seit 2022 steigen die Suchanfragen von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA). Wie es dazu kam und wieso der Suchdienst unbedingt mehr Ressourcen benötigt, lesen Sie im Interview mit Nicole Windlin, Leiterin Suchdienst SRK.

Wenn Kinder nach ihren Eltern suchenInterview lesen

Einen Ersttermin bekommt Hassan Monate später. Im März 2023 wird schliesslich ein Foto von Hassan auf der Onlineplattform «Trace the Face» publiziert. Die Website des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds hilft Geflüchteten, ihre Familie zu finden. Sie ermutigen Hassan auch, seine eigenen Netzwerke für die Suche zu nutzen. Oftmals müssen die Jugendlichen erst aus ihrer Erstarrung durch den Verlust des Familienmitglieds gelöst werden. Es hilft: Durch einen Bekannten im Iran erfährt Hassan, dass seine Mutter lebt und erhält ihre Kontaktdaten. Im Juli 2023 hört Hassan endlich die Stimme seiner Mutter am Telefon – fast zwei Jahre nach der Trennung am Flughafen.

Den grössten Schmerz verspüre ich erst heute. Wenn ich Familien sehe, die am See spazieren und zusammen sein können.

Hassan

Hassan weiss nicht, ob er je mit seiner Familie hier in Sicherheit leben kann. Minderjährige können ihre Familie nicht in die Schweiz nachziehen. Zurückgehen und sich in Afghanistan den Gefahren aussetzen? Für Hassan eine Frage, die ihn täglich begleitet.

Grundlage / Text: Recherche-Desk Tamedia | Illustration: Benjamin Güdel
Mit freundlicher Genehmigung von Lukas Lippert (Recherche-Desk Tamedia)

*Zum Schutz der Privatsphäre wurde der Name geändert

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